Kritik zu 'Oppenheimer': Christopher Nolans Film ist alles – und ein Meisterwerk (2024)

Es ist ein großes Zuschauerexperiment. Denn "Oppenheimer" ist ein Bruch mit fast allen Regeln. So entsteht Außergewöhnliches und – wie man es in vielen Gebieten der Kunst behauptet – manchmal ein Meisterwerk. Die Biografie "American Prometheus" (2005) von Kai Bird und Martin Sherwin, die in 25 Recherchejahren entstand, ist die Basis für Regisseur Christopher Nolan.

Sie spannt im Untertitel "Triumph und Tragödie Robert Oppenheimers" bereits den Rahmen. So könnte man vor allem eine Heldengeschichte erwarten, wie sie klassischer nicht erfunden werden kann: mit dem Aufstieg eines Studenten, der bereits in den 20er Jahren in Europa die wichtigsten Atomphysiker traf, eine ganz große Nummer der Atomphysik wird und Einstein als Genie, aber als "von gestern" bezeichnet.

Kritik zu 'Oppenheimer': Christopher Nolans Film ist alles – und ein Meisterwerk (1)

Oppenheimer ist ein unabhängiger Geist

Dann bekommt Oppenheimer den Auftrag, für die USA die Atombombe zu entwickeln: das sogenannte Manhattan-Projekt. Begonnen an der Elite-Uni in Berkeley verlegt Oppenheimer es mit Kind und Kegel in die Berge von New Mexico – unter Militärabschirmung, was angesichts Hunderter Mitarbeiter und Angehörigen schwierig war.

Dem Team unter Oppenheimer gelingt in Los Alamos der wissenschaftliche Triumph: Die dritte Testbombe detoniert mit dem ikonisch gewordenen Atompilz. Aber der unabhängige Geist Oppenheimer gerät in der Nachkriegszeit in die Kommunistenhysterie der McCarthy-Ära, wird tagelang verhört, was einem Gerichtsdrama gleichkäme, wenn diese Verhöre nicht in rechtsfreien Räumen von politischen Geheimausschüssen durchgedrückt worden wären.

Kritik zu 'Oppenheimer': Christopher Nolans Film ist alles – und ein Meisterwerk (2)

Auch, dass Oppenheimer sich weigert, nach der Atombombe die noch zerstörerische Wasserstoffbombe mit zu entwickeln, ist ein "patriotischer Sündenfall". Erst zehn Jahre später wird Oppenheimer von Kennedy rehabilitiert.

"Oppenheimer": Am Ende steht nicht Genugtuung

Nolan erzählt das auch alles. Aber er interessiert sich nicht für den klassischen Spannungsbogen einer Heldengeschichte. Am Ende steht nicht Genugtuung, sondern ein bitterer Beigeschmack über eine zweifelhafte amerikanische Gesellschaft und den eitlen, eifersüchtigen Wissenschaftsbetrieb.

Ist "Oppenheimer" ein Wissenschaftskrimi? Nolan quält den Zuschauer jedenfalls nie mit Formeln und Berechnungen, obwohl es um den Bau der Atombombe geht. "Das ist der größte wissenschaftliche Wettstreit der Geschichte: Und wir haben ihn gewonnen", sagt Oppenheimer im Juli 1945 nach dem extrem riskanten, aber erfolgreichen Test – da hatte Nazi-Deutschland bereits kapituliert.

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1938 hatte die Schlagzeile: "Germany: They split the atom" alles ausgelöst: Otto Hahn und Fritz Straßmann hatten die Kernspaltung errechnet. Aber Hitlers fanatischer Antisemitismus blockierte letztlich den Erfolg, weil er Quantenphysik "für jüdisch" hielt.

Oppenheimer: Zerrissen in seiner Rolle als "Vater der Atombombe"

Und Oppenheimer, der Star? In das patriotische, Sportpalast-artige Geschrei seiner Zuhörer brechen tranceartig apokalyptische Visionen in Oppenheimers geniales Hirn ein – wie sie ihn in Tag- und Nacht-Alpträumen oft verfolgen. Aber er ist als "Beautiful Mind" nicht wahnhaft, sondern bei Nolan ein nervöser, agiler, feinnerviger Typ, kein Borderliner, Nerd oder Außenseiter, sondern ein Frauenheld mit Familienleben.

Oppenheimer ist nicht psychisch, sondern intellektuell zerrissen in seiner Rolle als "Vater der Atombombe": "Das ist keine neue Waffe, es ist eine neue Welt" – das atomare Zeitalter mit der potenziellen vielfachen Zerstörung unseres Planeten. Und die ethisch komplexen Fragen sind Störfeuer in Oppenheimers Erfolgs- und Demütigungsgeschichte und ein Kernpunkt Nolans.

Der Film von Christopher Nolan zwingt einen zur Konzentration

So ist Nolans Film allumfassend, weil er all die Genres – Wissenschaftsthriller, Historienfilm, Polit- und Gerichtsthriller, Heldengeschichte – ausspielt, ohne genretypische Erwartungen zu erfüllen. "Oppenheimer", ein dreistündiges Zuschauer-Umerziehungsseminar.

Die erste halbe Stunde muss man sich mit offenem Mund an die Dichte und Opulenz und den eigenartigen Rhythmus gewöhnen. Spätestens dann aber entsteht ein rauschhafter Sog, und das, obwohl Nolan die Dramaturgie zerschnipselt und zur Konzentration zwingt.

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Ausgangspunkt bleiben die Verhöre durch ein politisches Komitee. Was zu Erinnerungen, Reflexionen und somit zu Rück- und Vorblenden führt: ein Lebenspuzzle. Aber es ist meisterhaft, wie Nolan das packend zusammenhält und gleichzeitig zersplittert.

Dazu bedient sich Nolan auch interessanter ästhetischer Mittel, wie dem Einsatz des retro wirkenden Zelluloids, das aber als 65- statt 35mm-Band und dadurch viel hochaufgelöster belichtet wurde. Eingestreut werden auch Schwarz-Weiß-Sequenzen, wenn es um die Polit- und Wissenschaftler-Intrige gegen Oppenheimer geht. Diese Ästhetik sorgt bei einem historischen Stoff unbewusst für größere Glaubwürdigkeit.

Oppenheimer bleibt eine faszinierende Sphinx

Auch der Einsatz der Musik (Ludwig Göranson) ist ungewöhnlich, weil sie als unruhiger Seelenspiegel Oppenheimers fast vordergründig eingesetzt ist. Die intensive Tonspur schüttelt den Zuschauer auch mal - fast immersiv - durch.

Bei der Explosion der ersten großen Testbombe ist es, als hätte der Lichtblitz mit anschließendem blass-grellem Schein alle Farben ausgelöscht. Auch der Ton ist plötzlich weg – man hört nur das Atmen der einzelnen Wissenschaftler wie unter einer Glocke – bis der donnernde Dauerknall über den Zuschauerraum wie ein atomares Gewitter hereinbricht.

Matt Damon, Robert Downey Jr., Emily Blunt – und Schweighöfer: Star-Aufgebot bis in die letzte Nebenrolle

"Oppenheimer" ist bis in Nebenrollen ein All-Star-Film – mit Emily Blunt, Matt Damon, Robert Downey Jr., Josh Hartnett, Casey Affleck, Rami Malek, Kenneth Branagh (und Matthias Schweighöfer als Werner Heisenberg). Nolan hat auch keine Zugeständnisse an den feministischen Zeitgeist gemacht, sondern die Wissenschafts- und Politikwelt damals als reine Männerwelt belassen - ohne das explizit zu problematisieren.

Und es gibt fast keine Szene, in der nicht Cillian Murphy als Oppenheimer im Bild ist und so oscarreif diesen Mann durch nur 56 Drehtage, aber inhaltlich über drei Jahrzehnte tragen muss - und fabelhaft schillernd trägt. Denn auch das ist ein Geheimnis der großen Wirkung des Films: Oppenheimer bleibt eine faszinierende Sphinx, auch wenn wir hier so viel über ihn erfahren.

Kino in München: Sendlinger Tor, Royal, Solln, Leopold sowie Monopol (OmU) und Arri, Mathäser (auch OV), Cinema, Museum (OV)
R: Christopher Nolan, (USA, 180 Min.)

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